Ein Unternehmer geht in die «Wüste» – 31 Tage pilgern ohne DIGITAL
VON GÖTZ SCHNEIDER
Digitalisierung beschäftigt mich schon seit dem Architekturstudium. Als Unternehmer strebe ich nach Verbesserung, will effizient sein. Egal wieviele Wochenstunden, ich bin immer mit Freude am Forschen und Entwickeln neuer Lösungen. Nach zwei Jahrzehnten intensiver beruflicher Zeit kam der Wunsch auf, einfach mal innezuhalten. Ich suchte mir einen Pilgerweg, auf dem nur Cracks und Individualisten unterwegs sind. Und ich nahm kaum etwas mit.
Wieso pilgern?
Ich kann nur sagen: Es fühlte sich einfach richtig an. Dass ich meine 18 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht einen Monat allein lassen will, war mein erster Gedanke. Wir haben offen darüber gesprochen und richtig begeistert war anfangs wohl keiner. Aber es funktionierte sehr gut! Aufgaben und Verantwortung wurden umverteilt, das Unternehmen in die Hände der Belegschaft gegeben. Ich habe mir unterwegs keine Sorgen gemacht. Ich wusste, meine Leute können das.
Ich glaube, Menschen pilgern aus ganz verschiedenen Gründen. Viele kennen den klassischen Jakobsweg, Camino Francés, die sogenannte Hape Kerkeling-Route, inzwischen sehr überlaufen. Ich suchte mir eine alte Pilgerstrasse aus, die Via de la Plata. Von Sevilla an der Südküste Spaniens führt sie über 1000 km in den Norden bis zum vielbesuchten Pilgerziel Santiago de Compostela.
Perfekt für meine Anforderungen an Klima, Länge und Wanderfrequenz: Wärme und weitgehend naturbelassene Landschaft. Und mir war klar, dass ich Santiago de Compostela in vier Wochen auf keinen Fall erreichen konnte.
Ein Weg ohne Ziel
Ich hatte im Vorfeld ganz bewusst entschieden, Santiago de Compostela nicht anzupeilen. Eine echte Herausforderung für mich. Als Unternehmer will ich Ergebnisse, will Ziele erreichen. Am besten schneller als andere. Im Alltag nutze ich eine Sport-App, mit der ich mich unterwegs wunderbar mit anderen Pilgern hätte messen können. Laufe ich 20, 30, 40 km am Tag? Das war mein gewohnter Unternehmer-Rhythmus, meine Art zu denken und zu handeln.
Und als Pilger? Da wollte ich einmal nicht effizient sein und nirgendwo ankommen müssen. Stattdessen einfach draussen unterwegs sein und auf mich zukommen lassen, wo meine Wanderung in vier Wochen enden würde.
Die Via de la Plata ist eine alte Reise- und Handelsstrasse der Römer. Heute führt sie durch die sogenannte Extremadura, eines der am dünnsten besiedelten Gebiete Europas. Begegnet sind mir nur wenige und schon erfahrene Pilger. Eben noch der zielstrebige Geschäftsinhaber, war ich plötzlich das „Greenhorn“, das wegen seines ungewöhnlichen Gepäcks fotografiert wurde. Herzlich willkommen wirklich absolut jenseits des digitalen Business!
Allein allein allein
Innehalten – das bedeutete für mich, Abstand haben von der eigenen Profession und einfach mal allein sein. Als Kopf eines Unternehmens bin ich das selten. Ich bin Ansprechpartner, habe Verantwortung. Und die kommt immer mit.
Allein sein meinte auch, ohne die Dinge zu sein, die wir in der Regel zur Unterhaltung oder aus Lust tun oder weil es angeblich sein muss. Ohne Filme, ohne Radio, ohne Buch. Das Telefon ausgeschaltet lassen, keine Gespräche führen, nicht mal mit den Liebsten. Ohne Ablenkung einmal nur mit mir selbst zurechtkommen. Mein grösster Schrecken dabei: die Langeweile. Leere.
Aber: Eine glasklare Wahrnehmung tritt an die Stelle der Unterhaltung. Es allein mit sich selbst auszuhalten ist eine echte Fähigkeit und dient der Regeneration, habe ich irgendwo mal gelesen. Ohne Ablenkung konnte ich Dinge innerlich klären und wieder frisch betrachten, aus neuen Perspektiven. Manche davon hatten Fell und tauchten wie aus dem Nichts auf.
Minimalismus vom Feinsten
Smartphone mitnehmen oder nicht? Das war eine schwierige Frage. Vor allem, wenn man Familie und Firma zuhause hat. Aber es war auch eine Frage des Gepäcks. Was einpacken, wenn man seine Sachen vier Wochen lang bei jedem Schritt bei sich trägt? Am liebsten: gar nichts. Zunächst suchte ich noch eine teure Profi-Trekkinghose im Fachgeschäft. Angezogen hab ich eine vom Flohmarkt. Ganz einfach.
Meine Pilgerwanderung startete ich am Ende mit einer kleinen Hüfttasche, knapp 4 kg Inhalt und ohne Smartphone. Das war schon lange ein Traum von mir. Eine fast schon sportliche Herausforderung, der ich mich stellen wollte: (fast) ohne Gepäck zu reisen. Erstaunlich viele Entscheidungshilfen fallen weg, wenn man so minimalistisch unterwegs ist.
Ohne Wetter-App halte ich einfach die Nase in den Wind. Es ist eh keine Kleidung im Gepäck, aus der ich auswählen könnte. Keine freundliche Stimme im GPS oder Radio beraten mich, was gerade angebracht wäre oder was ich Schönes essen könnte. Aus dem Bauch heraus weiche ich vom gekennzeichneten Pfad ab und vergesse die Zeit. Der Luxus des Pilgers ist die Einfachheit.
Planlos, intuitiv, lebendig
Navigations-App anschalten und alles wäre ganz easy, ärgerte ich mich noch kurz nach dem ersten unfreiwilligen Umweg. Doch der Umweg hatte mich durch eine hinreissende Landschaft geführt. Abenteuerlich musste ich über Zäune klettern, um am Abend eine Unterkunft und meine vorgesehene Strecke wiederzufinden. Glücklich und überaus zufrieden. Mit weniger Orientierungsmarken passiert das Leben einfach. Komisch – war das nicht früher immer so? Die digitale Welt – immer schneller, genauer, effizienter – lenkt manchmal ab von den echten, ursprünglichen Erfahrungen. Pilgern erinnert daran, wieder eigene intuitive Entscheidungen zu treffen, die berühmte innere Stimme zu hören, letztlich: sich selbst zu treffen.
Nach nur zweieinhalb Wochen war ich dermassen tiefenentspannt, wie ich es erst am Ende meiner Tour erwartet hätte. Langeweile hat mich nicht gequält, denn ich hatte reichlich intensives Leben. Am Abend eine geöffnete Herberge finden, ohne zu googeln. Schmerzende Füsse wegatmen. Mit Ziegen versperrte Tore passieren. Drei Mal neue Schuhe kaufen und am Ende barfuss gehen. Und in Südspanien empfing mich nicht nur die erwartete Wärme, sondern auch 8 Grad Kälte mit Sturm und Schlammflut.
Das Pilgerleben ist unvorhersehbar, erfrischend und planlos. Aus der gefürchteten Leere wird ein Sich-Einlassen. Eins mit der Natur. Eins mit der Realität, ob erfreulich oder nicht. Eins mit sich selbst. Beim Pilgern sind die Hindernisse oft genauso gross wie die schönen Erlebnisse.
Langsam sein um anzukommen
Als ich nach vier Wochen meinen Pilgerweg beende, ist Santiago de Compostela gut 600 km entfernt – wie geplant. Meine einzige Hose hat gehalten. Bis auf den Riss beim Überqueren der Stacheldrahtzäune. Ich habe gelernt, drei Stunden bei einem einzigen Tee zu sitzen. Ich habe akzeptiert, dass der Online-Spanischkurs, den ich als Reisevorbereitung mühevoll neben meiner täglichen Arbeit absolviert hatte, absolut überflüssig war. Ich habe es schätzen gelernt, dass es Momente gibt, in denen ich absolut nichts beeinflussen kann und nichts verstehe. Nicht nur wegen des schnellen Spanisch der Einheimischen. Ich bin häufiger zufrieden und vermisse wenig, auch mein Smartphone nicht.
Im Alltag bin ich sehr schnell unterwegs. Die digitale Transformation scheint das Tempo der meisten Menschen zu beschleunigen. Pilgern ist das Gegenteil. Eine bewusste Entschleunigung. Sie hat meine Sinne geschärft für die kleinen und leisen Dinge.
An einem Stausee aus römischer Zeit nahe Merida sass ich auf einem Felsen und hörte dem Wasser zu. Davon beeindruckt, wie kunstvoll Menschen diese Wasserleitungen vor so langer Zeit gebaut haben, fragte ich mich, was unsere Generation dieser Welt wohl hinterlassen wird.
Was bringe ich mit aus der „Wüste“?
Zurück nach 31 Tagen. Ein letzter Stop in Madrid – ich warte auf meinen Flug. Jetzt mit dem Segway für drei Stunden durch die City, das reizt mich. Sofort bin ich Feuer und Flamme, gleich wieder voll drin. Es war, als würde ich unsanft aus einem Traum geweckt.
Vier Wochen lang wandere ich in Schrittgeschwindigkeit durch menschenleere Gegend, und nun rausche ich mit dem Segway durch die Grossstadt. Nach vier Wochen schalte ich mein Smartphone wieder ein und fühle mich so selbstverständlich wie ohne. Der digitale Fortschritt ist weder gut noch schlecht. Bewusst eingesetzt schenkt er Erleichterung und eine Menge Lebensqualität. So wie bei der Segway-Tour. Dank einer genialen Technik – zwei Räder mit Antrieb – konnte ich in kurzer Zeit die interessantesten Ecken Madrids erleben.
Was ich konkret von meiner Tour mitgebracht habe, sind Pausen. Die Erkenntnis, dass Zeit-für-mich und dass, was ich liebe, einen festen Platz im Terminkalender verdient. Ich freue mich auf meine Firma und meine MitarbeiterInnen. Als Team haben wir unsere Fähigkeiten ausgelotet und wissen noch einmal mehr, wir können aufeinander bauen. Trotz geschäftiger Hektik, Autos, Lärm und Stadtgetümmel finde ich die Ruhe des Pilgerns im Alltag wieder, dieses Innehalten.
Ich habe verstanden, dass es notwendig ist, von Zeit zu Zeit das Gewohnte abzulegen, still zu werden. Sich fragen: Was ist wirklich wichtig? Die digitale Entwicklung geht so rasant, dass man das manchmal vergisst. Im Navigationssystem meines Firmenwagens habe ich nur die schnellste Route gespeichert. Navigationssysteme der Zukunft sollten auch den schönsten Weg erfassen, finde ich.
Buen camino!
Einen Pilgerweg zu gehen, tut weh und macht glücklich. Am Ende überwiegt das tolle Gefühl, es geschafft zu haben, zu spüren und zu staunen: Das da ist der echte Schneider. Hier ist meine Leidenschaft und meine Kreativität. Und die nehme ich jeden Tag mit.
Ich kann nur sagen: Buen Camino – eine Tour mit sich selbst lohnt sich!
BERICHT UND FOTOS: GÖTZ SCHNEIDER, TEXT: ANGELA SABO
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