Fahr Rad! Nachdenken über Städtebau – mehr Raum, mehr Sicherheit, mehr Architektur für Radfahrer
VON EINSZUEINS, ANGELA SABO
Ums Radfahren gab es schon immer Streit
Als der badische Forstbeamte Karl Drais 1817 die sogenannte Laufmaschine vorstellte, wurde diese bald darauf verboten. Begründung: ihre hohe Geschwindigkeit stelle eine Störung der öffentlichen Ordnung dar. Für sieben Kilometer Strecke brauchte man damit gut eine Stunde. Noch schneller waren die um 1850 entwickelten Hochräder. Eine Tretkurbel am Vorderrad diente als Antrieb und die Fahrer mussten erstmals ihre Füsse vom Boden nehmen. Mit den Vorderrädern wurde auch die Geschwindigkeit immer höher und Stürze mit schweren Verletzungen waren nicht selten. So blieben die teuren Hochräder ein Fahrzeug für Draufgänger. Mit den modernen „Niederrädern“ mit zwei gleichgrossen Rädern, Kettenantrieb und ab 1888 mit luftgefüllten Reifen wurde das Radfahren sicherer. In den 1890er Jahren hatte ein Fahrrad bereits alle Komponenten, wie wir sie heute kennen. Parallel entstanden aus der Fahrradtechnik die frühen Automobile.
Das Fahrrad als erstes massentaugliches Individual-Verkehrsmittel
Nach 1900 sanken dank Massenproduktion die Preise der bis dahin exklusiven Zweiräder. Plötzlich konnte sich auch der einfache Arbeiter ein Fahrrad leisten und musste nicht mehr fussläufig in der Nähe seiner Arbeit wohnen. Im Jahr 1936 fuhren in deutschen Städten ab 100.000 Einwohnern bis zu 61% der Arbeiter Fahrrad. Auch Lasten, Materialien, Waren wurden mit dem Rad befördert. 1938 gab es bereits über 10.000 km Radwege, die auch für Ausflüge und Urlaubsfahrten genutzt wurden. Nichtradfahrer, Fussgänger, Kutscher, selbst die ersten Taxifahrer, beschwerten sich schon damals über Belästigungen und Gefährdung durch Radfahrer. Sie hatten das Image von Unruhestiftern.
Stadtverwaltungen entwickelten vielerorts Massnahmen zur Eindämmung des Radverkehrs – Strassensperren, Fahrverbote, Fahrprüfungen, Fahrerkarten, sogar Nummernschilder. Dazu kamen immer mehr Motorräder und Automobile, die Platz auf den Strassen beanspruchten. Dennoch: Um die Jahrhundertwende bis nach dem zweiten Weltkrieg war das Fahrrad die Nummer eins unter den städtischen Fahrzeugen. Erst der wachsende Wohlstand der industrialisierten Gesellschaft in den 60er und 70er Jahren machte das Auto zum neuen Statussymbol. Im Städtebau folgte man dem Bedarf mit immer mehr und grösseren – autogerechten – Verkehrswegen.
Wem gehört die Strasse?
Heute müssen sich Radfahrer, Fussgänger und Autos Strassen teilen, deren Raum kaum noch erweitert werden kann. Stau, Parkprobleme, Luftverschmutzung, nicht zuletzt auch immer wieder schwere Unfälle mit Radfahrern haben inzwischen zum Umdenken zugunsten von Fussgängern und Radfahrern geführt. Fast überall ist der Umbau zu fahrradfreundlicheren Strukturen von heftigen Kontroversen begleitet. Von einer „Rückeroberung der Stadt“, wie der Titel einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (zu sehen noch bis 2. September 2018) zum Thema Radverkehr lautet, kann kaum die Rede sein. Das Auto ist und bleibt attraktiv – schon allein aus wirtschaftlichen Gründen.
Andererseits sind mehr als 50 % der in einer Stadt zurückgelegten Wege weniger als fünf Kilometer lang. Dafür ins Auto steigen, ausparken, einparken, Sprit verbrauchen, Abgase freisetzen? Eigentlich nicht nötig. Aber nur wo es sichere und gut ausgebaute Fahrrad- und Fusswege gibt und die Strasse als öffentlicher Raum gilt – gleichberechtigt für alle – lassen Menschen das Auto stehen und gehen alternative Wege. In besonders radfreundlichen Städten wie Groningen oder Kopenhagen erledigen bis zu 60% der Einwohner ihre innerstädtischen Wege wieder mit dem Fahrrad oder zu Fuss.
Kreativer Städtebau – speziell für Radfahrer und Fussgänger
Radfahren hat besondere Qualitäten, finden auch unsere Mitarbeiter in Winterthur – eine der fahrradfreundlichsten Städte in der Schweiz. Draussen zu sein, mit mehr Aufmerksamkeit für die Dinge unterwegs, natürlich gesundheitliche Aspekte, vor allem Bewegung. „Wenn ich mit dem Rad ins Büro fahre, bekomme ich viel mehr mit. Ich fühle mich lebendig und erfrischt. Und nebenbei habe ich einen Teil meines Sportprogramms erledigt“, meint Firmeninhaber Götz Schneider. Stichwort Lebensqualität. Die steht wieder mehr und mehr im Fokus von Städteplanern und Verkehrsentwicklern, eng verbunden mit dem Thema Sicherheit. Städtebaulich ist hier noch einiges zu tun. In Darmstadt werden Radwege ausgebaut und die Stadt hat einen Fahrradbeauftragten eingestellt. In vielen Grossstädten entstehen Fahrradparkhäuser und Fahrradmietstationen. Das Thema Radverkehr bewegt weltweit und hat enorm kreatives Potenzial, wie auch der reich bebilderte Katalog «FAHR RAD!» zur gleichnamigen Ausstellung im DAM Franfurt zeigt. Häufig sind renommierte Architekturbüros beteiligt, wenn es um innovative Umbau- und Ausbaumassnahmen für den Radverkehr geht. Sie zeigen Möglichkeiten, Verkehrswege zu entlasten, die Sicherheit von Radfahrern zu verbessern und gleichzeitig architektonische Highlights und Mehrwert für alle zu schaffen, die unterwegs sind – ob zu Fuss, auf zwei oder auf vier Rädern.
Diese Rad-Projekte begeistern uns besonders:
Menschenfreundlich: PASSEIG DE ST JOAN BOULEVARD, BARCELONA von Lola Domenech.
Der breite Boulevard wurde auf 3,15 ha Fläche in einen funktionalen, komfortablen und umweltfreundlichen städtischen Raum für Radfahrer und Fussgänger umgestaltet. Mit separaten Wegen für Fussgänger, Spielbereichen für Kinder, Gastronomie und weniger Fahrspuren für Autos zugunsten von Freizeitzonen unter Bäumen. Ein geschützter Zweirichtungsradweg befindet sich in der Fahrbahnmitte. Zur Website Passeig de St Joan Boulevard
Schön anzusehen: CIRKELBROEN, KOPENHAGEN von Olafur Eliasson.
Eine Brücke für Radfahrer und Fussgänger, bestehend aus fünf kreisrunden Plattformen, die sich bewegen lassen und die Wellen des Wassers nachempfinden. Menschen sollen sich beim Überqueren der Brücke Zeit nehmen, die Aussicht geniessen und einen neuen Blick auf die Dinge bekommen. Eine Brücke als Erholungsort innerhalb der Stadt. Zur Website Cirkelbroen
Fahrgefühl in Pink: NELSON STREET CYCLEWAY, AUCKLAND von Monk Mackenzie Architects.
Die ehemalige Autobahnausfahrt wurde nicht mehr gebraucht. Statt sie abzureissen, wurde sie in eine in Pink getauchte Verbindung für Radfahrer und Fussgänger umfunktioniert – auch Lightpath genannt. Zur Website Nelson Street Cycleway
Zukunftsweisend? FAHRRADPAVILLON, MAINZ von Schoyerer Architekten_Syra.
Der Prototyp des Fahrradpavillons wurde ausschliesslich aus industriell vorgefertigten Massenprodukten gefertigt. Die robuste prägnante Architektur bietet bis zu 12 Fahrrädern Platz. Die Stellplätze können gemietet werden. Zur Website Fahrradpavillon
Radweg in rund: HOVENRING, EINDHOVEN von ipv Delft creative engineers.
Die kreisförmige Brücke für den Zweirad- und Fussverkehr hat einen Durchmesser von 72 Metern und wurde mit 24 Abspannseilen an einem 70 Meter hohen Pylonen über einer wichtigen Strassenverkehrsachse aufgehängt. Getrennt vom Autoverkehr ist man hier sicher unterwegs und nutzt gleichzeitig zentrale Verkehrswege. Zur Website Hovenring
Öko auf hohem Niveau: OBOY WOHNHAUS UND HOTEL, MALMÖ von hauschild und siegel architecture.
Das üppig begrünte Gebäude mit Wohnungen und Hotelzimmern speziell für Radfahrer hat breite Türrahmen, strapazierfähige Oberflächen, riesige Aufzüge. Ein voll beladenes Lastenfahrrad fährt mühelos bis in die Küche. Die Mitgliedschaft im Fahrzeugpark ist in der Miete enthalten, falls man doch einmal ein Auto braucht. Das erste mehrstöckige Wohngebäude, das eine Planungsgenehmigung ohne vorgeschriebene Strassenparkplätze erhielt. Zur Website Oboy
Kathedrale für Räder: FAHRRADPARKHAUS CENTRAAL STATION, UTRECHT von Ector Hoogstad Architecten.
Das grösste Fahrradparkhaus der Welt sieht aus wie eine Kathedrale aus Beton, Glas und Holz und hat ein digitales Leitsystem, viel Tageslicht und Sichtachsen für Blickkontakt. 13.500 Räder sollen hier einmal stehen. Rampen und rotgestrichene Einbahnstrassen führen zu den Stellplätzen. Geparkt wird per Chipkarte. Zur Website Fahrradparkhaus Centraal Station
Nachhaltig und engagiert: RADBAHN, BERLIN von paper planes e.V.
Radbahn will den vergessenen Raum unter Berlins berühmter U1-Hochbahn in eine pulsierende urbane Hauptschlagader verwandeln. Sie ist ein Spielfeld für zeitgemässe Mobilität, Innovation und Freizeitangebote. Zur Website Radbahn
Der schnellste Radweg Deutschlands: RS1 – RADSCHNELLWEG RUHR von Fachleuten aus Stadtplaung, Verkehr und Landschaftarchitektur von Land, Strassenbau, Kommunen und Reginalverbänden – ein Gemeinschaftsprojekt.
Ein 101 Kilometer langer Radweg für Pendler, Touristen und alle, die sich mit dem Fahrrad auf der Achse zwischen Hamm und Duisburg bewegen möchten. Mindestbreite von 4 Metern, wenig Steigungen, durchgehend beleuchtet und sogar mit Winterdienst und Reinigung. Zur Website Radschnellweg Ruhr
Wir wünschen gute Fahrt!